> TOUR-TAGEBUCH |
RAPHAEL & JÖRG auf Europa-Tour Mo, 01. - Di, 02. - Mi, 03. - Do, 04. - Fr, 05. - Sa, 06. - So, 07. - Mo, 08. - Di, 09. - Mi, 10. - Do, 11. |
Mo, 01. September '03 In aller Herrgottsfrühe (so gegen halb zehn) starten wir mit dem Auto und fahren los Richtung Salzburg. Im Kofferraum ist die Anlage verstaut, auf der Rückbank türmen sich unser persönliches Handgepäck, die Gitarren und diverse Werbematerialien. Salzburg ist unsere erste Anlaufstation, da es uns wenige Tage zuvor gelungen ist, übers Telefon einen Gig im „JazzIt“, einem der renommiertesten Musikclubs der Mozartstadt, für Dienstag festzumachen. Der Veranstalter hat uns ein Hotel gleich in der Nähe seines Clubs organisiert, in dem wir zu Sonderkonditionen wohnen können. Nachdem wir unser Gepäck dort abgegeben haben, ziehen wir mit unserem Werbeköfferchen los durch die Cafes und Kneipen der Stadt, um vielleicht auch noch für den Montagabend kurzfristig einen Gig zu bekommen. Unsere anfängliche Motivation verbraucht sich rasch, als wir merken, dass dieses Unterfangen so gut wie aussichtslos ist. Die Gastronomen und Kneipiers trauen uns nicht und wollen kein Risiko eingehen. Eine neue Erfahrung: Während wir in der Heimat inzwischen gute Gagen für unsere Musik fordern können, gelingt es uns hier nicht mal, für n’Appl und n’Ei irgendwo zu spielen. Absoluter Tiefpunkt des ersten Tages ist dann der Moment, indem wir übers Handy den Anruf von JazzIt bekommen, und uns der Gig für Dienstag abgesagt wird, weil sich im Programm was verändert hat. Der Veranstalter ist immerhin so freundlich, dass er uns ein Ersatzengagement im „KOALA“, einer australischen Bar, organisiert. Trotzdem sind wir enttäuscht und ziemlich desillusioniert. Also tritt Plan B in Kraft - Plan B bedeutet Straßenmusik. An einer belebten Stelle in der Fußgängerzone (unweit von Mozarts Geburtshaus) packen wir aus, stellen den Koffer auf und spielen. Es klappt ganz gut, manche Leute bleiben stehen, lauschen eine Weile, manche werfen ein paar Münzen in den Koffer, hin und wieder erscheint ein Lächeln im Gesicht einer Zuhörerin, sie erkennt ein Lied und singt leise oder lauter mit. Mehrmals wechseln wir die „Bühne“, besonders nett ist es in einer kleinen Passage vor einem Blumengeschäft, bei toller Akustik und einer netten, kinderreichen Familie als Publikum. Als es anfängt zu dämmern, packen wir zusammen, gehen gemütlich was essen und später ins Kino (Grabgeflüster). Die Enterprise-Beerdigung ist zum Krümeln. Anschließend geht’s zurück ins Hotel, wir sind vom vielen Laufen so erledigt, dass uns schnell der Schlaf packt. |
Den
Vormittag nutzen wir, um uns kulturell etwas weiterzubilden. Museen, Kirchen
und Ausstellungen gibt’s in Salzburg ja genug. Am Nachmittag machen wir
wieder ne Weile Straßenmusik, und weisen dabei mit einem Plakat auch gleich
auf den Gig am Abend im KOALA hin. Wir hoffen, ein paar von den Leuten,
die länger stehen geblieben sind, die geklatscht und mitgesungen haben,
wiederzusehen. Der Gig ist sicher nicht unser bester, die ZuhörerInnen bleiben etwas reserviert, ob es Franzi gefällt, können wir lediglich vermuten („boasst!“). Gegen halb zwölf bauen wir ab und verabschieden uns. Franzi ist etwas im Stress, er muss bedienen und ausschenken zugleich, gibt uns aber noch die Hand und entlässt uns mit einem frischen „Servus, boasst !“ Raphi sitzt auf der Rückfahrt zum Hotel etwas eingeengt zwischen Stativen und Boxen, als er auf die Frage, obs noch auszuhalten ist, mit „boasst !“ antwortet, verreißts uns beinahe vor Lachen. Im Hotel zählen wir auf dem Bauch liegend unsere gestern und heute verdienten Münzen und kommen dabei auf eine stolze Summe. Die schönsten ausländischen Euro- und Centmünzen legen wir weg, da Raphis Vater ne Sammelmappe hat. Noch im Traum hören wir Franzis Stimme und ahnen, dass uns dieses Wörtchen in den nächsten Tagen und Wochen nicht mehr verlassen wird. Boasst ! |
Wir verlassen das Hotel in Salzburg und fahren weiter nach Wien. Um Geld zu sparen schlagen wir unser Zelt auf dem Campingplatz West auf, von wo aus das Zentrum bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist. An diesem Tag ist uns nicht nach Musik machen zumute, die Stimmen sind noch angeschlagen vom Vortag, also lassen wir die Gitarren im Auto zurück und sind für den Nachmittag ganz gewöhnliche Touristen. Der Stephansplatz ist beeindruckend und Salzburg kommt uns in der Erinnerung plötzlich wie eine Kleinstadt vor. Nachdem wir fein italienisch gegessen haben, schauen wir uns (endlich einmal wieder) gemeinsam ’nen Kinofilm an: „Der stille Amerikaner“, der kurz vor dem Ausbruch des Vietnam-Krieges spielt. Im Zelt schläft’s sich dann besser als gedacht. |
Den Vor- und Nachmittag verbringt jeder von uns in der Innenstadt nach seinem individuellen Interesse. Um 19 Uhr treffen wir wieder aufeinander, stellen uns in die Nähe des Stephansplatzes und fangen an zu spielen. Da wir mehrere Lieder lang keinerlei Reaktion bei den Massen an vorbeiströmenden Touristen erzielen, ziehen wir um und probieren’s noch mal. Wieder nichts. Wir sind enttäuscht und beschließen, an einer anderen Stelle noch einen letzten Versuch zu starten. Ganz oder gar nicht, wir stellen uns direkt auf den Stephansplatz vor den Eingang einer Apotheke, ein kuppelförmiges Vordach über unseren Köpfen (gut als Monitor), direkt gegenüber dem Eingang zum Stephansdom. Nach ein paar Minuten bleiben zwei Damen mit ihren Fahrrädern stehen, denen es sichtlich Spaß macht, uns zuzuhören. Bald werden es mehr, vielleicht zehn Leute, und wir lernen unsere erste und wichtigste Lektion im Auf-der-Straße-Spielen: Hast du zehn begeisterte Leute, hast du ruckzuck auch hundert. Zuerst ist es uns etwas unheimlich, dass mehr und mehr Menschen stehen bleiben, wir geben es auf, das Geld mitzuzählen, das in den Koffer geworfen wird. Wir werden lockerer und lauter, bewegen uns freier, verlieren die Befürchtung, dass die ZuhörerInnen uns zwischen zwei Liedern weglaufen könnten, trauen uns, kurze Pausen zu machen und gelegentlich auch mal ’ne Ansage. Irgendwann ist es kaum mehr nötig, die Leute zum mitsingen und mitklatschen aufzufordern und zu animieren, sie tun das ganz von allein. Einzelne tanzen sogar. Da nur etwa die Hälfte unseres Repertoires für Straßenmusik geeignet ist (die andere Hälfte ist zu sanft und zu leise), kommen wir nicht umhin, bestimmte Lieder zu wiederholen. Aber auch das scheint niemanden zu stören. Vor schätzungsweise 200 im Halbkreis vor uns stehenden Menschen spielen wir uns in eine Art Rausch, singen, tanzen, machen Faxen und Blödsinn, also genau das, was das Publikum sehen will. Die Geldmünzen plätschern nur so in den Koffer, es sind sogar einige Scheine darunter. Bei „Hey Jude“ lassen wir am Ende die Leute alleine singen und tun so, als ob wir zusammenpacken würden. Wie wir gehofft haben, protestieren sie heftig, und so „müssen“ wir weitermachen. Von einer jugendlichen Gruppe aus Deutschland werden wir mit Bierdosen „bezahlt“, und obwohl keiner von uns gerne Bier trinkt, kommt uns diese Erfrischung sehr entgegen. Wir nehmen Liedwünsche entgegen und erfüllen sie, wenn’s irgendwie geht. Unsere Flyer mit Kontakt- und Internetadresse gehen weg wie warme Semmeln. Während die Japaner im Publikum tagsüber damit beschäftigt waren, die Sehenswürdigkeiten zu fotografieren, knipsen sie nun uns. Nach zweieinhalb Stunden ununterbrochenen Spiels treten schließlich zwei freundliche Polizeibeamte in den Halbkreis: Mehrere Anwohner hätten sich beschwert und Straßenmusik sei eigentlich auch nur bis um zehn erlaubt. Einfühlsam wie die Wiener sind, lassen sie uns noch eine letzte Zugabe spielen, und ernten dafür von den ZuhörerInnen einen extra Applaus. Mit „Let it Be“ verabschieden wir uns von dem tollen internationalen Publikum, das mehr zur Show beigetragen hat, als wir selbst. Hinterher führen wir ein paar nette kleine Unterhaltungen in verschiedenen Sprachen. Die vielen Münzen kommen in ein extra Fach im Gitarrenkoffer, und der ist ganz schön schwer und unhandlich, als wir aufbrechen. Noch halb berauscht von so viel unerwartetem Erfolg haben wir das Gefühl, ganz Wien müsste uns kennen, als wir durch die Fußgängerzone laufen und uns eine kleines Restaurant aussuchen. Hier feiern wir mit Rotwein und Tequila, kommen aber auch wieder auf den Boden zurück. Da unsere Einnahmen im kleinen Zwei-Mann-Zelt nur schlecht sichten lassen, erledigen wir das später in einem Bus-Wartehäuschen in der Nähe vom Campingplatz. Das Zählen dauert fast solang, wie das Spielen. |
Fr, 05. September '03 Eine längere Fahrt nach Kroatien steht uns bevor. Mein Vater hat in der Nähe von Crikvenica ein kleines, halbverfallenes Ferienhäuschen, in das wollen wir uns einquartieren und die inspirierende mediterrane Umgebung im Garten für ertragreiche Proben nutzen. Wir fahren über Zagreb und machen dort Mittagspause in einem Park. Beim Bäcker gibts ein oberleckeres Blätterteiggebäck (ne Art Börek), das in der Auslage so wunderbar vegetarisch anmutet, dass selbst Raphi eines kauft. Als sich beim essen herausstellt, das es mit Hackfleisch gefüllt ist, kann ich mich glücklich schätzen, nun habe ich gleich zwei von den aparten Köstlichkeiten. Das Autofahren in Zagreb ist ein Abenteuer und wir sind froh, als wir wieder heil auf der Autobahn sind. Irgendwann liegt vor uns das Meer und wir haben einen fantastischen Blick. Wir fahren durch Rijeka und Crikvenica immer der Küste entlang, bis wir schließlich nach Selce und dann nach Novo Vinodolsky kommen, wo wir uns von ein paar kleineren Felsbrocken erst mal in die Fluten stürzen und erfrischen. Das Wasser kommt uns beiden etwas sehr salzig vor, aber man kann sich das ja logisch erklären: In einem so heißen Sommer ist viel Wasser verdunstet und wenig neues Regenwasser dazugekommen, da steigt der Salzgehalt natürlich an. Physik hin oder her (hab ich in Klasse 12 übrigens abgewählt) - vielleicht waren wir beide einfach schon lange nicht mehr am Meer. Nach einem einfachen, supergünstigen Abendessen in Bribir suchen wir das abgelegene Ferienhaus und finden eine schwer sanierungsbedürftige, wild-romantische Ruine. Es gibt dort sogar Strom und zwei Matratzen, auf denen wir erledigt von der vielen Fahrerei schnell in den Schlaf sinken. |
Am Vormittag proben wir eine Weile und es tut gut, mal wieder ein paar neue Lieder zu spielen. Für den Abend ist ein Gig bei Charlie, einer italienischen Pizzeria und Bar vereinbart. Den Nachmittag erholen wir uns und genießen das südliche Flair: In Selce kann man wunderbar an der Strandpromenade spazierengehen, durch die schönen engen Gässchen schlendern, oder sich einfach ans Meer legen, baden, schnorcheln und Klippenspringen (spektakulär für Raphis Anderthalbfachen). Zum Straßenmusikmachen haben wir an diesem Tag keine Lust, dafür scheint uns der Ort nicht touristisch genug. Bei Charlie spielen wir dann am Abend vor vielleicht zehn Leutchen, bekommen aber immerhin wieder Essen und Getränke frei. Besonders nett ist, dass es dem Mädchen in der Küche gefällt, immer wieder lugt sie zwischen Gemüseschnippeln und Geschirrspülen zu uns nach draußen, singt mit und schenkt uns manches Lächeln. Als wir uns hinterher kurz mit ihr unterhalten, bittet sie uns darum, doch mal bei ihr zuhause in Tschechien zu spielen. Und für einen Moment geraten wir in Versuchung, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Dann aber bauten wir vollends ab und fahren zurück in die Ferienruine. |
Ein sehr fauler Tag. Wir schlafen lang, proben wieder ein Weilchen, bummeln am Strand und gehn nachmittags schnorcheln. Eine kleine Grotte fasziniert uns besonders. Um dort rein zu kommen muss man sich ein paar Meter halb tauchend durch einen sehr engen Felsvorsprung zwängen, innen drin hat man dann wie in einer Höhle wieder mehr Platz und kann sich ausruhen. Am Abend erleben wir in Selce zufällig ein Open Air Konzert einer der angesagtesten kroatischen Rockbands. Zuerst sind wir skeptisch, welche Riesenanlage die Musiker für die paar Touristen haben aufstellen lassen, später füllt sich der Platz und wir selbst werden überwältigt von der technisch perfekten, professionellen und trotzdem sehr emotionalen und eindringlichen Musik. Wir hätten nicht gedacht, dass die kroatische Musikszene mit derartig hochwertigen und dabei auch zu unserem Geschmack passenden Künstlern aufwarten kann. Wie gut müssen dann erst die richtig großen Konzerte in Zagreb sein! Vielleicht hatten wir einfach nur Glück, waren zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle und konnten eine großartig aufgelegte Gruppe erleben. Schade dass es zur Zeit in Deutschland keine vergleichbar guten Bands mit deutschen Texten gibt ! |
Mo, 08. September '03 Weiter gehts in Richtung Italien. Über Trieste und Udine gelangen wir bis zum späten Nachmittag nach Venedig. In der Hotel-Info lassen wir uns über günstige Unterkunftsmöglichkeiten beraten und finden tatsächlich eine kleine Pension am Lido, die wir uns leisten können. Mit der Fähre setzen wir über (machen dabei viel Musik, im, am, auf und in der Nähe vom Auto), laden unser Gepäck im Hotel ab und fahren mit dem Schiff an den Markusplatz. Es dämmert schon, viele Touris sind schon wieder weg und wir bekommen einen wunderbaren ersten Eindruck von der Stadt der Gondeln und Kanäle. Eine wunderbare Stimmung liegt am Abend über dem riesigen Platz, vier klassische Ensembles spielen feurige Unterhaltungsmusik vor den Cafes, wir setzen uns auf eine Stufe, betrachten und belauschen das Treiben. Als sich der Hunger meldet spazieren wir durch eine kulinarische Gasse, wo ein leckeres Restaurant neben dem anderen liegt. Die Preise auf der Karte sind gar nicht so teuer aus, also lassen wir uns unbesorgt nieder und freuen uns aufs Essen. Schnell wendet sich das Blatt: Der Kellner ist alles andere als freundlich, wir traun uns kaum, etwas zu bestellen. Auf der Karte klingen die Gerichte köstlich, auf dem Teller haben sie die Größe von Vorspeisen und schmecken nicht besonders gut. Wir werden nicht satt (das wäre ja noch verzeihlich und auch nicht das erste Mal). Vom Stuhl hauts uns dann in dem Moment, als wir die Rechnung erhalten. Es sind dort mehrere Beträge aufgelistet, die wir nicht zuordnen können, und die Summe ist so hoch, dass wir mit diesem Geld normalerweise mindestens dreimal essen gehen können. Wir lassen uns von dem genervten Kellner (der natürlich kein Deutsch sprechen kann oder will und auch kein Englisch, als er merkt, das Raphi das fließend beherrscht) die Rechnung aufschlüsseln. Danach wissen wir mehr: Die 6 Euro sind der 0,2l-Orangensaft (aus Konzentrat) !!!!!!!!, 12 Euro sind Extra-Steuern, 6 Euro Servizio oder so ähnlich und so weiter. Wir fühlen uns chancenlos im Diskutieren, zahlen unwirsch und versuchen nur noch dem Kellner in verschiedenen Sprachen zu vermitteln, dass wir die Bedienung als sehr bescheiden empfunden haben. Um unseren beträchtlichen Resthunger zu stillen und nicht zuletzt aus Protest gehen wir anschließend zu Mc Donalds (ja, den gibts auch in Venedig und da weiß man wenigstens, was man zu bezahlen hat). Für den Preis eines 0,2l-Orangensaftes bekommen wir fast zwei komplette Menüs. Den restlichen Abend verbringen wir damit, uns in den entzückenden, labyrinthartigen kleinen Gässchen zu verlaufen und schlabbern dabei ein oberleckeres Rieseneis. |
Um an unserem zweiten Tag in Venedig ein ähnliches finanzielles Desaster wie beim gestrigen Abendessen zu vermeiden, gehen wir am Vormittag erst mal zu „Billa“, dem italienischen Aldi, der unweit unserer Pension liegt. Anschließend spazieren wir bei regnerischem Wetter am menschenleeren Lido-Strand auf und ab, sammeln Muscheln und schauen den Wellen zu. Ein wehmütiges Gefühl von Herbst beschleicht uns. Nachdem wir im Hotelzimmer „zu Mittag gegessen haben“ (Chips, Kekse und Erdnüsse), setzen wir mit dem Schiff über zum Markusplatz und verbringen den Nachmittag inmitten tausender Touristen und abertausender Tauben. So viele verschiedene Menschen auf einem Haufen sind schon sehr interessant, da kann man sich auf eine Treppenstufe setzen und stundenlang zuschauen. Um fünf gehen wir endlich mal wieder ins Kino, der Film ist auf italienisch und wir verstehn so gut wie nichts. Gegen halb acht fangen wir am schmalen Ende des Platzes unter weitläufigen Arkaden an, Musik zu machen. Ungefähr nach einem Lied kommt ein Fotograf mit Stativ und Riesen-Hightech-Digitalkamera auf uns zu - wir sehn uns schon auf der Titelseite des Venezianischen Boten -, er will aber nur den Durchgang fotografieren, ausgerechnet die Stelle, an der wir gerade stehn. Also rutschen wir hilfsbereit ein paar Meter nach links, spielen weiter und lassen ihn seine Aufnahmen machen. Erst als er wieder weg ist, bleiben die Passanten stehn. Der Tag erweist sich als zweiter Glückstag auf unserer Reise: Ähnlich schnell wie in Wien füllt sich der Durchgang und wir haben rasch wieder 200 Zuhörer. Zwei Gruppen von Mädels, wahrscheinlich von einer Schulklasse auf Studienreise, feuern uns mächtig an, singen und klatschen mit, kichern, und wir kommen uns bald vor wie eine Boygroup. Als es Raphi zu warm wird und er sich seines Pullis entledigen will, schwillt das Gekichere an zu einem Gekreisch und Raphi lässt sich gaaaaaaaanz viel Zeit. Beinahe zieht er auch noch das T-Shirt aus, aber dann hätten sie ihn wahrscheinlich zerfleischt. Viele Japaner sind im Publikum, es wild wiedel fleißig fotoglafielt. Einzelne Touristen sind so gut drauf, dass sie sogar anfangen zu tanzen. Unter den Arkaden klingt es fantastisch, wenn über 200 Menschen einen Refrain mitsingen. Wir lassen uns von der Stimmung mitreißen und sind so locker wie noch nie, vielleicht etwas zu locker. Bei den Rockn-Roll-Instrumentalpassagen tanzen wir nach links und nach rechts und einmal sogar hinein in die Menge der tanzenden Leute. Die Hand- und Körperbewegungen bei Twist-And-Shout treiben wir auf die Spitze: Normalerweise fängt man knapp über dem Boden an, die Hände zu schütteln und geht dabei leicht in die Knie. Ich denke: „Wenn schon denn schon !“ und fange mit dem ersten „Aaahhhh“ im Liegen an. Raphi tut es mir solidarisch gleich und so wird’s nicht ganz so peinlich. Die Leute müssen denken wir sind völlig abgedreht oder direkt aus Amsterdam eingereist, aber sie nehmen es uns nicht übel, sondern sind im Gegenteil begeistert von der Show. Dieses Mal erwischen wir selbst den richtigen Zeitpunkt, Schluss zu machen (bevor uns die Polizei dazu auffordert), wir spielen „Let it Be“ als letzte Zugabe, bedanken und verabschieden uns von den ZuhörerInnen. Wieder entwickeln sich anschließend einzelne Gespräche, wir müssen sogar Autogramme geben. Als wir wieder allein sind, packen wir die Koffer und laufen zurück über den großen Platz zum Schiff. Gekreische von links, Gekreische von rechts – die Schülerinnen sind noch da und wir genießen den Abgang. Eigentlich sind wir ja beide eher schüchtern und etwas unheimlich ist das schon. Hätten wir vorhin nicht Musik gemacht, hätten die Mädchen uns keines Blickes gewürdigt. Beim Geldzählen im Hotelzimmer kommen wir wieder auf den Boden. Venedig – die Stadt der Gondeln, der Kanäle und der kreischenden Mädels. Gut geträumt in dieser Nacht. |
Mi, 10. September '03 Weiter düsen wir nach Verona. Nachdem wir uns auf einem netten Campingplatz in einem abschüssigen Wäldchen oberhalb der Stadt einquartiert haben, fahren wir mit dem Auto runter ins Zentrum. Dort ist nicht ganz so viel los wie in Venedig, um die Arena herum jedoch und in ein paar Einkaufssträßchen sind viele Touris. Wir lassen die Gitarren erstmal im Auto und bummeln selbst eine Weile. Die Arena sieht schon von außen sehr beeindruckend aus, gerne würden wir einen Blick hinein werfen, was jedoch wegen der Vorstellung am Abend nicht möglich ist. Als wir si durch die Fußgängerzone laufen, ist ein besonders eindringliches Bild ein kleiner Junge, der in lumpenhafter Kleidung am Straßenrand sitzt, eine schiefe Melodie auf seinem Kinderakkordeon spielt und dabei völlig lethargisch ins Leere schaut. Als ihm eine Passantin etwas in die Schachtel wirft, verzieht er das Gesicht zu einer lächelnden Grimasse und macht eine Verbeugung, die mehr wie eine Verrenkung aussieht. Sekunden später hat er wieder dieselbe ausdruckslose Maske auf. Wir sind beide schockiert und etwas überfordert von dem Anblick und laufen schnell weiter. Als wir später selbst anfangen, auf der Straße zu spielen, ist der beunruhigende Eindruck noch immer nicht ganz gewichen. Nach wenigen Liedern laufen zwei Polizisten auf uns zu und erklären uns, dass an dieser Stelle Musikmachen nicht erlaubt ist. Sie nennen uns einige Stellen, wo wir spielen können, weisen uns aber darauf hin, dass um neun, also in einer guten halben Stunde, überall Zapfenstreich für Straßenmusik ist. Weil wir an diesem Tag doch noch ein bisschen was verdienen wollen, laufen wir schnell zu einem von den genannten Plätzen, stellen uns auf und spielen. Gute Stimmung kommt jedoch nicht auf, und kaum jemand bleibt stehn. Kurz vor neun läuft der kleine Straßenmusikant von vorhin auf uns zu, sein Akkordeon hat er nicht mehr bei sich. Er kurz der Musik, lächelt – und diesmal ist sein Lächeln echt – ,wirft uns eine Münze in den Gitarrenkoffer und ist auch schon wieder verschwunden. Bald machen wir uns auf den Weg zurück zum Campingplatz. Auf so einer Reise als (Straßenmusiker) bekommt man vielfältige Eindrücke, manche machen einen glücklich, manche machen einen traurig, und manche vergisst man nie. |
Do, 11. September '03 Letzter Tag unserer Tour. Die Heimfahrt steht auf dem Programm. Es geht bei peitschendem Regen und schlechter Sicht über den Brenner und auf der Autobahn immer weiter gen Norden. Beim Kloster Ettal (meine einstige Praxisstelle) machen wir eine Rast und spazieren ein Stück auf dem Höhenweg. In München stellen wir das Auto ein zweites Mal ab und laufen durch den Olympiapark. Als begeisterter Turmspringer möchte es sich Raphi nicht entgehen lassen, einen Besuch in der Olympiaschwimmhalle zu machen, wo es ein extra Springerbecken mit vielen, vielen Sprungbrettern gibt. Wir haben Glück, die Schwimmhalle hat tatsächlich geöffnet und wir können Baden gehn. Raphi zeigt mir diverse artistische Sprünge und eigentlich hatte ich versprochen, mitzutrainieren. Am Ende ist es für uns beide jedoch wesentlich spannender, einer graziösen Kunstspringerin beim Training zuzusehen. Da kann sogar Raphi noch was lernen. Um halb zehn haben wir Kirchheim erreicht. Wir verabschieden uns voneinander, nicht unter Tränen, den bis zum nächsten Treffen, einem Gig bei der Vereinsfeier des TSV Holzmaden, sind es gerade mal 21 Stunden. Die zwei live in Salzburg, Wien, Venedig, Verona, HOLZMADEN – großartig ! Jörg |